13. August 2011

Kok Payom

Oder:
In der Mitte des Lebens

In Kok Payoms Mitte steht ein Baum. Dieser Baum steht nämlich in der Mitte eines großen, länglichen, rechteckigen Reisfeldes, um welches wiederum herum die vier Straßen des Dorfes liegen, die sich aber nicht, anders als der Europäer erwartet, dem Mittelpunkt des Dorfes hin ausrichten, sondern genau den Laufe der vier Seiten des Reisfeldes folgen, auf solche Weise, dass zwei lange Straßen, an dessen Enden durch zwei kurze Straßen verbunden sind und somit ein Straßennetz bilden, welches, genau wie das Reisfeld, der Form eines länglichen Rechtecks gleicht.
Dem Europäer erscheint diese Form oftmals seltsam, denn gewöhnlich erwartet dieser in einem Dorf eine Kreuzung, mit Straßen, die alle zu einem Platz hinführen, vornehmlich zu dem einer Kirche, wobei dieser Platz in aller Regel nicht nur den kartographischen Mittelpunkt de Dorfes darstellt, sondern ebenfalls die Rolle des Zentrums fürs Dorfleben einnimmt.
In Kok Payom zentriert sich dieses Dorfleben aber gerade nicht um dessen Mittelpunkt, eben jenem Baum herum, und auch nicht, wie womöglich vermutet, um der Moschee oder der Schule herum, welche an zwei verschiedenen der vier Ecken des Straßennetz liegen, sondern es befindet sich in einer wiederum weiteren, dritten Ecke. In genau dieser Ecke steht Kok Payoms Zentrum – BangMots und GaBans Laden.

In genau diesem Laden sitzt, Tag ein Tag aus, DoSao. DoSao bewegt sich nur wenig mehr von ihrem Platz als jener Baum, denn sie ist bereits sehr alt und schwach und geplagt mit einer Krankheit, die ihren ganzen Körper zittern lässt. Nur manchmal, wenn sie sich beispielsweise noch verantwortlich fühlt, irgendwelche herumirrenden Hühner vertreiben zu müssen, erhebt sich diese 90-Jahre alte Dame, macht einen oder zwei wackelige Schritte nach vorne und ruft leise, aber dennoch kräftig “weg! weg!”.

Gewöhnlich sitzt sie dort aber nur und sieht wie ein Kind zu, wie das Leben um ihr herum voranschreitet, welches viel zu schnell für sie geworden ist.
Sie sitzt dort bereits früh morgens, wenn die ersten Fischermänner von ihrem nächtlichen Fischerturn zurück kommen und neben ihr Platz nehmen, bereits gemütlich einen Kaffee schlürfen und dabei hungrig warten, bis GaBan und BangMot von ihrem täglichen, frühmorgentlichen Großeinkauf wieder kommen, um sich dann endlich über das frisch gekaufte Frühstück, fritiertes Hähnchen mit Klebereis, herzumachen.
Mittags, wenn die Sonne brennt, schläft sie dort, und wenn nicht, sieht sie, wie das Dorf schläft, kein Wind weht, jede Katze ruht und keiner in den Laden kommt, da jeder zu schwach ist und sich in eine Hängematte oder auf einen kalten Betonboden gelegt hat, um sich von von letzter Nacht, der harten Arbeit auf der Gummiplantage, zu erholen.
Wenn dann am Nachmittag die Kinder aus der Schule kommen und ihre Instant-Noodles über den ganzen Laden verstreuen, lässt sie es sich noch nicht nehmen, diese dafür anzumeckern, doch die Kinder ignorieren sie normaler weise einfach und düsen sorgenlos weiter, irgendwo ins Dorf hin, wo sie überall willkommen sind, denn die Kinder haben verständlicher Weise, nach ihrem neunstündigen Schultag alles andere im Kopf als auf diese bereits leicht verwirrte Großmutter zu hören, sodass diese verdutzt weiter auf ihrem Platz weilt und dem Leben zuschaut.
Und so sieht sie am Abend, kurz nachdem der Muezin gerufen hat, wie die Männer, in Sarrong und mit Gebetskappe, auf ihren Motorrollern am Laden vorbeifahren und sie sieht, wie sich kurz darauf der Laden füllt, mit braven Hausfrauen in alten Klamotten, die hier fürs Abendessen einkaufen, jedoch nicht anfangen zu essen, bevor der Ehemann zu Hause ist, wovon manch einer, jüngere in Arbeitskleidung, erst jetzt aus der Stadt wiederkommen, wo sie hart Geld verdienten und hier nun kurz im Laden halten, um sich mit neuem Tabak einzudecken und dabei auf Jugendliche treffen, die, wenn gekleidet in enger Jeans statt in Sarrong, dort hinwollen, wo die Männer gerade herkommen, sich jedoch vor ihrem abendlichen Ausflug hier noch schnell eine günstige Nudelsuppe reinschlagen möchten und dafür bereits am Tisch Platz genommen haben, direkt neben DoSao.
Kurz darauf haben dann alle gegessen, auch DoSao, und das ganze Dorf sitzt nun frisch geduscht in irgendeinem Haus und guckt zusammen mit Gästen oder dem Gastgeber die Daily-Soaps im TV und schlummern dabei bereits vor sich hin, erschöpft von letzter Nacht und vorbereitend fürs nächtliche Aufstehen. DoSao selbst schläft schon, neben ihrem Enkel Ali unterm gemeinsamen Moskito-Netz, denn bereits früh morgen wird sie wieder auf ihrem Platz sitzen.

Wie dieser Morgen wird, weiß keiner. Vielleicht bringen GaBan und BangMot ein neues Produkt vom Markt mit, so wie sie einst das erste Mal eine Coca-Cola ins Dorf brachten. Oder es gibt eine neue Daily-Soap im TV nach der alle ihren Tagesablauf neu richten, so wie eins das Fernsehgerät die Sonne als Uhr ablöste.
Ach hat sich Kok Payom gewandelt, in all den Jahren seit DoSao als junge Frau ins Dorf kam und damals hier nur vereinzelt Häuser im dichten Payomwald hervorschauten, dessen Bäume Stück für Stück gefallt wurden, um an dessen Orten Häuser zu errichten, die man später mit den ersten Sandstrassen verband, welche dann noch später durch Teerstraßen ersetzt wurden, auf denen heute ganz Kok Payom mit ihren Motorrollern und Autos durchs Dorf fahren - Und jedes Kind mit seinem eigenen Fahrrad, und die, deren Eltern es sich leisten können, haben ein Rad mit Ben10-Aufschrift, alle anderen schmücken ihre Fahrräder eben mit Ben10-Stickern oder Stickern aller möglicher anderer Merchandise-Stars von Cartoon Network, tragen Ben10-Shirts und erledigen ihre Hausaufgaben mit Ben10-Stiften in Ben10-Heften.
Längst gibt es viele die aus dem Dorf abwandern. Einige verdienen ihr Geld in der Umgebung und kommen jeden Abend im dicken Auto zurück, andere wohnen bereits in Bangkok, studieren dort und kommen nur noch in den Ferien zurück, wo sie dann den ganzen Tag vorm Laptop Aufgaben erledigen.

DoSao wird vieles davon nicht mehr begreifen, sondern einfach ihr Leben, das Leben von Kok Payom weiterleben, indem sie sich jeden morgen auf ihren Platz setzt und von dort aus dem Leben zuschaut, ihre zwölf Kinder begrüßt, wenn diese von ihrer Arbeit wieder kommen, zusieht, wie ihre unzähligen Enkel und Urenkel zur Schule rasen und verfolgt, wie all ihre Schwiegertöchter, Nichten und Neffen, sowie all ihre anderen Verwandten zweiten, dritten und vierten Grades in den Laden ihres jüngsten Sohnes kommen.

Sie wird dort weiter sitzen, im Wissen, dass das Leben von Kok Payom weiter geht, im Wissen, dass, so wie sie einst Kinder gebar, noch immer Kinder geboren werden, für die immer noch Reis gekocht wird, so wie sie damals Reis kochte und für die immer noch Fische gefangen werden, so wie ihr Mann damals Fische fing, in der Hoffnung, dass, so wie DoSaos Kinder neue Kinder bekamen, auch die Kinder von heute später einmal neue Kinder bekommen, damit die Eltern von heute selbst irgendwann, so wie DoSao heute, auf einem Platz sitzen und dort dort aus zuschauen, wie das Leben von Kok Payom und das der Kinder und Kindeskinder weiter seinen Gang geht.

Und wenn es stimmt, dass der wahre Sinn des Lebens darin liegt, Kinder groß zu ziehen, und wenn es stimmt, dass das wahre Glück darin besteht seine Kinder und Enkel zu sehen, dann, ja dann ist Kok Payom der richtige Ort zum glücklich werden, und dann ist DoSao die glücklichste Frau in diesem Ort.